Haben Projektleiter in der agilen Welt noch eine Existenzberechtigung?

Vordergründig wird das jeder sofort verneinen. Im agilen Umfeld managen sich die Teams selbst. Und keines der bekannten Frameworks für agile Vorgehen (SAFe, Nexus, etc.) kennt die Rolle des Projektleiters oder der Projektleiterin.

Nun ist aber jeder frei eines dieser Vorgehensmodelle an seine Bedürfnisse anzupassen. Man könnte sich also für SAFe als Basis-Framework entscheiden und die Rolle des Scrum Masters einfach in Projektleiter umbenennen. Und auf einmal kommt dem Projektleiter wieder eine entscheidende Rolle zu. Der Trick ist natürlich leicht zu durchschauen, macht aber auch schnell deutlich, dass eine Diskussion auf dieser oberflächlichen Ebene nur dogmatisch verlaufen kann. Wir gehen also eine Detailstufe tiefer und schauen uns an, was zum Beispiel einen Projektleiter ausmacht. Die ICB 4.0 der IPMA kennt 29 Kompetenzelemente eines Projektleiters. Zahlreiche dieser Kompetenzen sind auch in einem agilen Umfeld äusserst nützlich.

Das Kompetenzelement "Leistungsumfang und Lieferobjekte" beispielsweise deckt sich weitgehend mit eine der Fähigkeiten, welche ein Product Owner mitbringen sollte. Klassischerweise dokumentiert der Projektleiter seine Liefergüter und Erkenntnisse in einem Projektstrukturplan, der Product Owner formuliert Features und Stories und priorisiert diese. Am Ende vereint beide, dass sie erkannt und dokumentiert haben, wie die zu liefernden Ergebnisse definiert sind, und welche davon wichtig und dringend sind.

Im Kompetenzelement "Teamarbeit" ist zwar häufiger von "Team leiten" die Rede, doch die Zielsetzung geht klar in die Richtung Teamentwicklung und möglichst selbstständige Arbeit. Ein guter Projektleiter wird sich auch sofort zurückziehen, wenn er erkennt, dass eines seiner Projektteams auch von alleine performt. Ich habe auch schon agile Teams erlebt, die stark davon profitiert hätten (und sich unausgesprochen vielleicht auch ein wenig danach gesehnt haben), wenn jemand mit Führungsqualität mehr Orientierung geboten hätte. Ein guter Projektleiter wird in einem solchen Fall zu den gleichen Mitteln greifen, die auch ein Scrum Master einsetzt.

Und bei aller Begeisterung für die Werte der Agilität habe ich bisher auch noch kein agiles Umfeld angetroffen, das völlig frei von Macht und Interessen ist. Jemand, der im Umgang damit kompetent ist (Kompetenzelement "Macht und Interessen"), kann seine Fähigkeiten also durchaus auch in einem agilen Umfeld gewinnbringend einsetzen. Auf diese Weise können wir die Kompetenzelemente der ICB 4.0 durchgehen. Wahrscheinlich werden wir bei allen Aspekte finden, welche auch in einem agilen Umfeld gefragt sind und Nutzen stiften.

Welchen Schluss ziehen wir nun aus diesen Überlegungen? Ein guter Projektleiter wird auch in einem agilen Projekt eine wertvolle Bereicherung sein. Nicht, weil agilen Projekten ein Projektleiter fehlt, sondern weil ein guter Projektleiter zahlreiche nützliche Kompetenzen mitbringt und diese situativ in seiner jeweiligen Rolle richtig einzusetzen weiss. Damit das funktioniert, benötigt es lediglich ein wenig Anpassungsfähigkeit von allen Seiten. Vom Projektleiter, weil er nun vielleicht einen weniger traditionsreichen Titel führt und seine Kompetenzen anders einzusetzen wissen muss. Und von den überzeugten Agilisten, weil sie damit anerkennen, dass auch die klassische Art und Weise Projekte zu leiten über Werte verfügt, die Mehrwert stiften.

Die Hürden dazu sollten nicht unüberwindbar sein. Schliesslich geniessen Anpassungsfähigkeit und Selbstreflexion (auch ein Kompetenzelement der ICB 4.0) sowohl in der klassischen als auch in der agilen Welt einen hohen Stellenwert.

 

Dieser Artikel erschien bereits am 21.5.2021 auf LinkedIn.